Kein Widerspruch zur Tarifautonomie
Bei etwa 8,6 Millionen Arbeitsverhältnissen wird aktuell weniger als zwölf Euro brutto pro Stunde bezahlt. Zwei Drittel der betroffenen Personen sind Frauen, in aller Regel beschäftigt in Betrieben ohne Tarifbindung (aus einer aktuellen Studie des WSI).
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger (Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände BDA) hat nun angekündigte (siehe SZ vom 19. Januar), den gesetzlichen Mindestlohn "qualifiziert juristisch überprüfen zu lassen" und eine Klage gegen die Mindestlohn-Erhöhung (ab Oktober 2022) vor dem Bundesverfassungsgericht einzureichen. Begründung: Das Gesetz verstoße gegen die Tarifautonomie.
Der gesetzliche Mindestlohn war und ist kein Eingriff in die Tarifautonomie. Er ist notwendig geworden, weil sich immer mehr Arbeitgeber aus der Tarifbindung und damit der Verantwortung für gute Löhne für gute Arbeit zurückgezogen haben. Die Tarifbindung ist in Deutschland dramatisch gesunken, von 74 % in den 90er Jahren auf knapp um die 50 %. In Ostdeutschland liegt die Tarifbindung sogar nur bei 43 Prozent.
Ein gesetzlicher Mindestlohn stellt also eine notwendige Ergänzung des bewährten Tarifvertragssystems dar. Er ist die untere Grenze für einen menschenwürdigen und armutsfesten Lohn.
Gerade in den Niedriglohnbranchen stärkt die Erhöhung des Mindestlohns tarifgebundene Unternehmen gegenüber der hier besonders zahlreichen tariflosen Konkurrenz. Sie stabilisiert damit das Tarifsystem, zwingt sie doch die „Billiglöhner“ zu einer erheblichen Anhebung ihrer Vergütungen.
Wie heuchlerisch die Argumentation der Arbeitgeber ist, kann man auch daran ablesen, dass Arbeitgeberverbände ihren Mitgliedern eine so genannte „OT-Mitgliedschaften“ (OT = ohne Tarifbindung) anbieten. Damit sind selbst Verbandsmitglieder nicht mehr an die vom eigenen Verband abgeschlossenen Tarifverträge gebunden. Ernsthaftes Interesse an der Tarifautonomie sieht anders aus.